Nuklearer Winter

In dem Moment als ich vor dem Unglücksreaktor in der Sperrzone von Tschernobyl stand, und der Geigerzähler mir ausdauernd mit seinem schrillen Warnton die unsichtbare Gefahr radioaktiver Strahlung hörbar machte, bekam ich doch noch ein mulmiges Gefühl. Die Situation war surreal. Keines meiner bisherigen Reiseziele war so wie dieses. 

Warum macht man sowas? Es liegt mir fern mich zu rechtfertigen, aber diese Frage wurde mir schon oft gestellt und ich denke es ist ein guter Zeitpunkt gekommen sie hier zu beantworten.

Ich musste es mir schon dann und wann gefallen lassen, für meine Reisetätigkeit verurteilt zu werden. In meinen Augen war die Kritik oft ungerechtfertigt und die vorgebrachten Argumente hatten eine Spanne von mangelnder Kenntnis über das Reiseziel bis hin zur Doppelmoral.

Ich habe Fernweh und Lust auf diese Welt seit ich denken kann. Und je älter ich wurde, um so mehr wollte ich – so gut es irgendwie machbar ist – die Welt sehen, wie sie wirklich ist. Ich habe mich immer bemüht in die (Lebens)realitäten unseres schönen Planeten vorzudringen und dabei unbequeme Ziele nicht gescheut. Mein Mut wurde mit vielen unvergesslichen Erlebnissen belohnt, die mein Leben für immer bereichern werden. Und es zum Teil auch in eine völlig neue Richtung lenkten.

Es liegt mir am Herzen zu sagen: Die Welt wird kein besserer Ort, wenn wir uns alle gegenseitig meiden. Die Welt wird ein besserer Ort, wenn wir sie uns ansehen und versuchen das Fremde zu verstehen. Und die Augen nicht davor verschließen, was Menschen auf diesem Planeten bewegt.

Oder was sie anrichten.

Tschernobyl ist so ein Ort. Er ist nicht nur traurige Realität, sondern auch ein Moment der Geschichte, der uns alle auf die ein oder andere Weise betroffen hat.

Die Ausflüge in die Sperrzone als puren Sensationstourismus abzutun ist zu kurz gedacht. Dieses radioaktiv verseuchte, unbewohnbare Stück Erde und die Ruine des Kernkraftwerks sind im wahrsten Sinne des Wortes ein strahlendes Mahnmal für etwas, was in der Geschichte der Menschheit nie wieder hätte passieren dürfen, aber mit Fukushima doch wieder passiert ist. Es ist ein Mahnmal, dem ich mich genau so stellen möchte, wie vielen anderen Gedenkstätten auch.

1986

Ich war 10 Jahre alt, als es am 26. April 1986 in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl zu der bis dato größten Nuklearkatastrophe in der Geschichte kam. Ein Unglück, wie es sich selbst Fachleute in ihren schlimmsten Albträumen nicht ausmalen konnten. Die Folgen, waren, sind und werden noch für viele Jahrzehnte schwerwiegend sein. Vermutlich sogar für Jahrhunderte.

Die Katastrophe ereignete sich bei einer Sicherheitsübung, bei der ein Stromausfall simuliert wurde. Es sollte bewiesen werden, dass trotzdem eine Schnellabschaltung des Reaktors sicher durchgeführt werden kann. Durch Konstruktions- und Bedienungsfehler kam es jedoch zur Explosion und zu einem Brand, durch den zehn Tage lang völlig unkontrolliert radioaktive Stoffe in die Erdatmosphäre gelangten. 

Es bildeten sich radioaktive Wolken, die atomaren Niederschlag über weite Teile Europas und später über die gesamte nördliche Halbkugel verteilten. Der Störfall wurde zunächst von der Sowjetunion verheimlicht und auch im eigenen Land heruntergespielt. Drei Tage später gab es Alarm in einem schwedischen Kernkraftwerk, als auf dessen Gelände eine erhöhte Radioaktivität festgestellt wurde. Nachdem ausgeschlossen werden konnte, dass es hier einen Störfall gegeben hatte, richtete sich der Verdacht aufgrund der Witterungsbedingungen schnell gegen die Sowjetunion. Am Abend wurde von der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS erstmals ein Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl gemeldet und Europa in Alarmbereitschaft versetzt.

Was folgte war eine große Verunsicherung. Das Vertrauen in die sowjetische Informationspolitik war nicht sonderlich hoch und Deutschland auf solch eine Situation alles andere als gut vorbereitet. Und als es in Westdeutschland dann tatsächlich in Bayern und Baden-Württemberg zum gefürchteten radioaktiven Niederschlag kam, wurde es chaotisch.

Während Politiker noch versuchten die Gefahren des Niederschlags zu relativieren, kauften verängstigte Bürger bereits die Supermärkte leer. Frische Milch und Gemüse wurden quasi unverkäuflich und die Landwirte in ihrer Existenz bedroht.

Von nun an wurden Lebensmittel täglich auf ihre Strahlenwerte überprüft und die Ergebnisse in den Zeitungen veröffentlicht. Nur wusste niemand so genau, welche Werte denn als gesundheitsschädlich galten. Festgelegt wurde das nämlich nie. Plötzlich gab es in jedem Bundesland unterschiedliche Richtwerte. Was in Hamburg als gesundheitsschädlich galt, ging in Hessen noch als unbedenklich durch.

Obwohl ich so jung war, erinnere ich mich noch gut an die damalige Zeit. Als erstes kommt mir immer der Geburtstag eines Schulfreundes in den Sinn. Wir spielten im Garten und wurden plötzlich von den Großeltern panisch ins Haus zurückgeholt, als es anfing zu regnen. Tschernobyl war das beherrschende Thema in allen Medien und ich wurde plötzlich konfrontiert mit einer unbekannten Gefahr, die ich noch nicht verstehen konnte, aber mich nie wieder loslassen sollte.

Tschernobyl: 500.000 Krebstote? Meldungen wie diese beherrschten die Medien monatelang.
Tschernobyl: 500.000 Krebstote? Meldungen wie diese beherrschten die Medien monatelang.

Im Vergleich zu den Atombomben, die über Hiroshima und Nagasaki gezündet wurden, setze der Unglücksreaktor von Tschernobyl mit seiner Explosion die 200fache Menge an radioaktiver Strahlung frei. Und es drohte noch schlimmer zu werden.

Das Feuer wurde immer heißer und war dabei sich bis zum Grundwasser durchzufressen. Kühl- & Löschwasser im Keller des Reaktors hätte bei Kontakt mit dem heißen, geschmolzenen Reaktorkern vermutlich eine gewaltige Explosion ausgelöst. Die restlichen Reaktoren wären dabei vernichtet worden und hätten unfassbare Mengen an unkontrollierbarer Radioaktivität freigesetzt. Manche Experten gehen davon aus, dass große Teile Europas verstrahlt und unbewohnbar geworden wären.

Man mobilisierte 600.000 bis 800.000 Menschen, die mit primitivsten Werkzeugen und improvisierter, unzureichender Schutzausrüstung am Unglücksreaktor arbeiteten. Diese sogenannten Liquidatoren mussten unter anderem das Dach des Nachbarreaktors von radioaktivem Schutt befreien. Die Strahlung war dabei so hoch, dass sie sich dort nur 45 Sekunden aufhalten durften. Außerdem wurde in Rekordzeit ein Tunnel unter dem brennenden Reaktor gegraben, der mit Beton gefüllt wurde. Man musste mit allen Mitteln versuchen den Kontakt des brennenden Reaktorkerns mit dem Grundwasser zu verhindern.

Erst 36 Stunden nach dem Unfall wurde die nahegelegene Stadt Prypjat evakuiert. Solange waren die rund 50.000 Einwohner einer viel zu hohen Strahlung ausgesetzt ohne es zu ahnen. Nochmal eine gute Woche später evakuierte man weitere 116.000 Menschen aus einem Gebiet von etwa 3.500 Quadratkilometern. In den Folgejahren wurden nochmals 210.000 Menschen umgesiedelt. Inzwischen beträgt die Sperrzone, die auf Dauer als unbewohnbar gilt, 4.300 Quadratkilometer. Ein Kreis mit dem Radius von 37 Kilometern rund um den Reaktor.

Eilig wurde ein provisorischer Betonmantel als Schutzhülle um den Unglücksreaktor errichtet. Eine Konstruktion, die längst in die Jahre gekommen ist und nie hermetisch abgeschlossen war. Mit einem Zusammenbruch würden es wieder zu einer Freisetzung radioaktiven Staubs kommen, der in die Atmosphäre gelangen könnte.

Es gibt unzählige entsetzliche Geschichten und Schicksale zu dem Reaktorunglück. Viel zu viele um dem Thema in einem Reisebericht gerecht zu werden. Wieviele Menschenleben diese Katastrophe gefordert hat und noch fordern wird, kann nicht einmal seriös geschätzt werden. Nach offiziellen Berichten zufolge sind nur 50 Menschen an akuter Strahlenkrankheit gestorben. Wieviele Krebsfälle und andere Erkrankungen durch Tschernobyl ausgelöst wurden – und vor allem wo – wird niemals zu ermitteln sein.

17. März 2018

Als ich morgens den Vorhang in unserem Hotelzimmer in Kiew öffnete und aus dem Fenster sah war ich trotz aller Vorwarnungen geschockt. Über Nacht kam es tatsächlich zu dem angekündigten Wintereinbruch, der der Region 20 Zentimeter Schnee bescherte. Und noch immer schneite es so stark, dass ich kaum das Gebäude auf der anderen Straßenseite klar sehen konnte.

Unsere Tour startete früh und wir wurden angehalten pünktlich zu sein. Also blieb uns nichts anderes übrig als bei knackigen Minustemperaturen durch die nicht geräumten Straßen zu stapfen und schon mit nassen Knöcheln am vereinbarten Treffpunkt aufzuschlagen. Drei Busse standen bereit und man teilte uns in eine kleine, englischsprachige Gruppe von 6 Personen ein. Elena, unser Guide für den heutigen Tag, war mit einem Overall und Moonboots wesentlich besser gerüstet als wir. Und dabei hatten wir uns noch vor der Abreise extra Skiunterwäsche besorgt. Immerhin.

Für eine Tour in die Sperrzone von Tschernobyl herrschen ähnlich hohe Auflagen wie für meinem Besuch an die Grenze zu Nordkorea. Schon bei der Buchung im Internet mussten wir die Daten unserer Reisepässe übermitteln und penibel darauf achten, dass uns kein Tippfehler unterläuft. Mitgenommen wird nur der, dessen Angaben korrekt sind. Nachdem ich eine Anzahlung für die Tour geleistet hatte bekamen wir umgehend eine mehrere Seiten lange e-mail, der wir schon erste Anweisungen entnehmen konnten.

So sind zum Beispiel lange Kleidung und geschlossene Schuhe Pflicht. Egal bei welchen Temperaturen. Je nach Wetterlage sollte man sich sogar mit Wechselkleidung wappnen. Wasser und Essen sind für den Tag mitzuführen. Ein kleines Erste Hilfe Set wird empfohlen. Und wer verkatert oder ganz und gar noch betrunken zur Tour erscheint wird nicht mitgenommen.

Nach einem ersten Zwischenstopp an einer Tankstelle, an der wir noch letzte Besorgungen machen konnten, hielten wir noch an einem kleinen Laden für Outdoor Bedarf, um uns Gummistiefel zu kaufen. Die 8 Euro pro Paar waren gut investiert. Elena versicherte uns, dass uns eine einmalige Tour erwartete bei einer Wetterlage, die selbst für ukrainische Verhältnisse zu dieser Zeit ungewöhnlich ist.

Mit Geigerzähler und Karte von der Sperrzone starten wir in die Tour
Mit Geigerzähler und Karte von der Sperrzone starten wir in die Tour

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Gute zwei Stunden benötigten wir für die Fahrt bis zur Sperrzone. Tschernobyl liegt etwa 130 Kilometer nördlich von Kiew. Elena vertrieb uns die Zeit mit vielen interessanten Fakten und Geschichten zum Reaktorunglück von 1986 und zeigte uns eine ausführliche Dokumentation. Als ich die Originalaufnahmen auf dem Monitor sah registrierte ich zum ersten Mal, dass wir auf dem Weg zum Ort des Geschehens sind. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, kämpfte mit der Müdigkeit und kam fast um vor Hitze. Die Skiunterwäsche verfehlte im gut beheizten Bus ihre Wirkung nicht.

Es folgten weitere Anweisungen. Wir sollten darauf achten nichts anzufassen, fallen zu lassen oder mit unseren Geigerzählern stark verstrahlte Stellen, sogenannte ‘Hotspots’ zu berühren. Elena klärte uns auf, dass es drei verschiedene Arten von radioaktiver Strahlung gibt. Vor den Alpha- & Betastrahlen schützt uns mehr oder weniger neben der Schneedecke auch die für diese Tour vorgeschriebene lange Kleidung. Vor der starken Gammastrahlung schützt nur Zeit und Abstand. Das heißt, wir sollen uns nicht allzu lange in oder an den Hotspots aufhalten und dann wieder auf Abstand gehen. Auch im Freien essen und trinken sollte möglichst unterlassen werden.

Wir sollen immer in Sichtweite bleiben und auf jeden Schritt aufpassen. Außerdem herrscht in der Sperrzone strengstes Rauchverbot. Auch bei diesen Witterungsbedingungen. Ich war mir dieser Gefahr gar nicht bewusst, aber sollte aus irgendwelchen Gründen in diesem Gebiet ein Waldbrand ausbrechen, insbesondere in dem extrem belasteten ‘roten Wald’ (Red Forest), würde wieder hohe Radioaktivität in die Atmosphäre gelangen und als nukleare Wolke ihren Weg irgendwohin antreten.

Die streunenden Hunde sollten wir besser nicht streicheln, ein Rat den Elena selbst nicht beherzigen würde, wie sich noch herausstellen sollte. Auch von Wildtieren und den Wölfen, die sich das Gebiet wieder zurückerobern, sollten wir uns besser fern halten. Manche Ratschläge muss man selbst mir tatsächlich nicht zweimal geben.

Gefängnisstrafe steht auf das Entfernen von Gegenständen aus der Sperrzone. Keinesfalls sollte man versuchen eine Trophäe rauszuschmuggeln. Es kommt zu regelmäßigen Taschenkontrollen. Plünderer haben nach der Katastrophe schon genug Schaden angerichtet und Gegenstände aus den verlassenen Wohnungen gestohlen und in alle Ecken des Landes verkauft. Ein Sprichwort in der Ukraine sagt, dass man nie weiß, wie verstrahlt der Teppich der Schwiegermutter sei.  Und wie in so vielen Ländern dürfen Soldaten und Polizisten auch hier nicht fotografiert werden.

Wir erfahren, dass die Stadt Tschernobyl, nach der das Kraftwerk damals benannt wurde, weil es die nächstgrößere Stadt war, noch bewohnt ist. Etwa 3.500 Arbeiter wohnen in der Sperrzone um den Reaktor in Schach zu halten und an der neuen Schutzhülle zu arbeiten. Mit allem was an Infrastruktur hierfür nötig ist. 15 Tage am Stück darf man sich in der Zone aufhalten. Darauf müssen 15 Tage Pause folgen.

Zu guter Letzt erklärte Elena uns die Handhabung des Geigerzählers und lieferte einige Vergleichswerte. Die natürliche Strahlung in der Umgebung von Kiew betrug bei unserer Abfahrt 0.13 Mikrosievert (μSv) pro Stunde. Während ich diese Zeilen schreibe zeigt die Messstation für Radioaktivität in Hamburg-Jenfeld einen aktuellen Wert von 0.082 μSv pro Stunde an. Auf dem Gipfel der Zugspitze liegt der Wert, wie in Kiew, heute bei 0.131 μSv pro Stunde.

Je höher die Lage, desto mehr ist man kosmischer Strahlung ausgesetzt. So kommt es, dass eine Reise mit dem Flugzeug mit durchschnittlich 4.0 μSv pro Stunde auf uns einwirkt. Aber auch medizinische Untersuchungen wie Röntgen oder Mammographien weisen hohe Werte auf.

Als wir den ersten Checkpoint erreichten erwies sich Elenas Vorprüfung als erfolgreich. Alle Ausweisdaten wurden korrekt angegeben und unserer Gruppe wurde die Genehmigung zur Einfahrt in die Sperrzone erteilt. Wir sind jetzt nur noch 30 Kilometer vom Unglücksort entfernt.

Am Grenzposten zur Einfahrt in die Sperrzone
Am Grenzposten zur Einfahrt in die Sperrzone


Zalissya

Ein verlassenes Dorf ist unsere erste Station. Von den drei Bussen, die von Kiew aus die Tour angetreten haben, sind wir in der Regel als erstes an den Sehenswürdigkeiten und finden sie in völliger Einsamkeit und bedrückender Stille vor. Elena erzählt uns, dass die Touren inzwischen so zahlreich gebucht werden, dass sich in den Sommermonaten Hundertschaften von Touristen durch die verlassenen Orte drücken. Jens & Ich realisieren in diesem Moment, dass das extreme Wetter das Erlebnis noch außergewöhnlicher macht, als es ohnehin schon ist.

Viele Bewohner, die kurz nach dem Unglück aus der Sperrzone nach Kiew evakuiert wurden, verkrafteten den Verlust ihrer Heimat nicht. Ihr ganzes Leben lang hatten sie ländlich in kleineren Orten gelebt. Viele als Selbstversorger. Nach einigen Jahren gingen viele von ihnen illegal in ihre Häuser zurück. Manche von ihnen leben seit Jahrzehnten in dem verstrahlten Gebiet und erfreuen sich eines hohen Alters. Mediziner können es sich nur so erklären, dass die Zufriedenheit dieser Menschen mehr für ihre Gesundheit bewirkt hat, als es alle Schutzmaßnahmen hätten erreichen können. Der Stress des Entwurzelns aus ihrer Heimat und das Verbannen in eine ihnen unbekannte Lebenssituation war für viele Menschen das größte Unglück, was ihnen widerfahren konnte.

Inzwischen haben die 139 bisher nur geduldeten Rückkehrer von der ukrainischen Regierung ihren Segen bekommen und dürfen sich nun ganz legal in ihrer verlorenen Heimat aufhalten.

Als wir aus dem Bus aussteigen blicken wir auf eine verschneite, unberührte, gespenstisch stille Landschaft. Es schneit weiter kräftig und ein eisiger Wind fegt uns um die Ohren. Einige Hunde rennen bellend auf uns zu und begrüßen stürmisch Elena, die das Rudel auch sofort im Griff hat.

Wir stapfen durch den Schnee und entdecken zwischen den Bäumen worum es geht. So sieht es also aus, wenn ein Ort vor 32 Jahren vom Leben verlassen wurde.

Wir betreten als erstes ein ehemaliges Geschäft. Eine Kühltheke steht noch mitten im Raum. Eine Preisliste liegt darauf. Kaputte Gläser säumen den Boden. Dazwischen der Deckel eines Kochtopfs.

Ich fange an zu realisieren, dass dies erst der Anfang von vielen schwer zu verstehenden Dingen ist, die wir heute sehen werden.

Unberührt. Verlassen.
Unberührt. Verlassen.

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Der Eingang des ehemaligen Lebensmittelgeschäfts.
Der Eingang des ehemaligen Lebensmittelgeschäfts.

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Einige Schritte weiter sehen wir das ehemalige Kulturzentrum des Ortes. Sowjetische Propaganda hängt noch über der kleinen Bühne. Durch die offenen Fenster weht der Schneesturm ins Innere des Gebäudes. Die Decke hat große Löcher und in einigen Räumen ist der Holzboden zusammengebrochen.

Das verlassene Kulturzentrum
Das verlassene Kulturzentrum

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Selbst die Propaganda aus früheren Zeiten hängt noch
Selbst die Propaganda aus früheren Zeiten hängt noch

Wir laufen weiter die Straße entlang zu einem Wohnhaus. Ein Geschäft oder ein Kulturzentrum zu betreten ist eine Sache. In persönliche Wohnräume von Menschen einzudringen eine andere. Mein erster Blick fällt auf eine zurückgelassene Zeitschrift und ich ertappe mich bei dem Gedanken, was man wohl in 32 Jahren in unserer Wohnung finden würde, wenn wir sie von jetzt auf gleich verlassen müssten. Die Vorstellung alles zurücklassen zu müssen jagt mir einen Schauer über den Rücken. Ich frage mich, ob die ehemaligen Bewohner dieses Hauses noch leben und ob sie wissen, dass es regelmäßig besichtigt wird.

Das Allermeiste aus dieser Wohnung ist Plünderern zum Opfer gefallen. Möbel waren keine mehr zu sehen und selbst die Heizkörper sind entfernt worden.

Ein Auto, das 1986 zu den besten des Landes gehörte. Im Hintergrund das Wohnhaus.
Ein Auto, das 1986 zu den besten des Landes gehörte. Im Hintergrund das Wohnhaus.

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DUGA-1

Unter unserer zweiten Station hatte ich mir etwas völlig anderes vorgestellt. Elena erwähnte zu Beginn unseres Ausfluges, dass es aufgrund des Wetters vielleicht nicht möglich sein würde, das sowjetische Radar ‘DUGA-1’ zu besuchen. Ich stellte mir einen unspektakulären kommunistischen Betonklotz mit einer Parabolantenne auf dem Dach vor. Nicht in meinen kühnsten Fantasien hätte ich mir ausmalen können, wo man uns hinführen würde.

Wir bogen rechts von der Hauptstraße ab. An der Ecke stand ein niedliches Bushäuschen mit kindergerechten Motiven, das von der sowjetischen Regierung absichtlich dort platziert wurde. Mischka der Bär, das Maskottchen der olympischen Spiele in Moskau 1980 winkt einem freundlich entgegen. Der Bevölkerung wurde vorgegaukelt, dass diese Straße zu einem Kinder-Feriencamp führen würde und sobald sich jemand dorthin verirrte, wurde ihm von einem Polizisten nahegelegt wieder umzudrehen, da es dort ansonsten nichts zu sehen gäbe. In der Regel wusste der sowjetische Durchschnittsbürger die freundliche Aufforderung zu verstehen und leistete Folge. Einige Kilometer weiter, erzählte man uns, gab es eine Absperrung, an der die Polizisten autorisiert waren Eindringlinge zu erschießen.

Das Radar DUGA-1 war Teil des sowjetischen Raketenabwehrsystems und diente hauptsächlich zur Überwachung eines möglichen Atomwaffenangriffs durch die USA. Es besteht aus 60 Großantennen, die zum Teil unglaubliche 150 Meter hoch sind. So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen, geschweige den überhaupt geahnt, dass es so etwas gibt. Mit einer Reichweite von bis zu 15.000 Kilometern störte das DUGA-1 Radar weltweit die Radiofrequenzen mit einem aggressiven Klopfgeräusch, was ihm den Spitznamen Woodpecker (Specht) einbrachte.

Angesichts der Größe kann man heute kaum glauben, dass diese Anlage tatsächlich der Geheimhaltung unterlag. Bürger, die von höheren Gebäuden aus die Antennen aus dem Wald herausragen sahen, stellten besser keine Fragen.  Mit dem Reaktorunglück musste die Anlage aufgegeben werden. Seit ihrer Entdeckung entstanden die wildesten Verschwörungstheorien, wie zum Beispiel, dass die USA Tschernobyl absichtlich zerstört hätten, um die Stromversorgung des Radars lahmzulegen. Aber auch Geschichten über Gedankenkontrolle der Bürger oder Wetterbeeinflussungen halten sich hartnäckig.

Unsere Gruppe war wieder als erste am Radar angekommen. Der Anblick aus der Nähe war schier überwältigend.  Hinzu kam, dass die Anlage durch den starken Wind surreale Geräusche abgab. Eine kaum fassbare Situation mitten im Nichts.

Nur Kulisse: Das Bushäuschen des erfundenen Kinder-Feriencamps
Nur Kulisse: Das Bushäuschen des erfundenen Kinder-Feriencamps
Eingang zum verlassenen Militärgelände.
Eingang zum verlassenen Militärgelände.

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Auf dem Weg zum Radar
Auf dem Weg zum Radar

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Ein unglaublicher Anblick
Ein unglaublicher Anblick
60 Türme. Zum Teil 150 Meter hoch.
Über 60 Türme. Zum Teil 150 Meter hoch.

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Kopachi

Kopachi ist ein Ort, den man so schnell nicht wieder vergisst, obwohl er gar nicht mehr existiert. Wir befinden uns inzwischen in der 10 Kilometer Sperrzone und etwa 7 Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt. Hier ist die Radioaktivität deutlich erhöht. Das Dorf Kopatschi hatte zum Zeitpunkt seiner Evakuierung etwa 1.100 Einwohner. Mit dem Versuch Teile der Landschaft wieder zu dekontaminieren beschloss man, die zum größten Teil aus Holz bestehenden Wohnhäuser abzureißen und das komplette Dorf zu begraben. Nur noch große Erdhügel mit Warnschildern zeugen davon, dass hier Menschen einst ihr Zuhause hatten.

Heute weiß man, dass diese ganze Aktion alles nur noch schlimmer gemacht hat. Der Boden und das Wasser in dieser Gegend sind hochgradig und nachhaltig radioaktiv verseucht.

Zwei Backsteingebäude wurden nicht abgerissen. Eines davon ist ein ehemaliges Kinderheim. Schon auf dem Weg von der Hauptstraße zum Eingang des Kinderheims schlugen unsere Geigerzähler Alarm. Wir bekamen es nun mit immer stärker werdenden Hotspots zu tun.

Direkt neben dem Eingang des Kinderheims zeigte uns Elena eine Stelle im Boden, die ihren Geigerzähler von 1.0 μSv auf über 12 μSv hochschnellen ließ. Ausgelöst werden kann so etwas zum Beispiel, wenn Regen das radioaktive Material vom Gebäude herunter wäscht und so abfließt, dass es sich an einer Stelle über Monate und Jahre sammelt.

Im Inneren des Kinderheims sind wir alle mehr als bedrückt. Auch hier ist was wir sehen schwer mit unserem Verstand zu erfassen.

Abgerissene und vergrabene Häuser des Dorfes mit Warnschildern
Abgerissene und vergrabene Häuser des Dorfes mit Warnschildern
Ein Denkmal aus früheren Tagen. Im Hintergrund das Kinderheim.
Ein Denkmal aus früheren Tagen. Im Hintergrund das Kinderheim.
An den Bäumen herrscht erhöhte Radioaktivität im Erdreich.
An den Bäumen herrscht erhöhte Radioaktivität im Erdreich.
Eingangsbereich des Kinderheims
Eingangsbereich des Kinderheims

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Innerhalb der 10 Kilometer Sperrzone messen wir öfter erhöhte Strahlenwerte.
Innerhalb der 10 Kilometer Sperrzone messen wir öfter erhöhte Strahlenwerte.

Wir fuhren weiter Richtung Unglücksreaktor. Es wurde Zeit für die Mittagspause in der Kantine des Kraftwerks. Elena hatte ein eindringliche Warnung für uns. Auf gar keinen Fall sollten wir die Damen der Essensausgabe ungefragt fotografieren. Es kam wohl in der Vergangenheit schon deshalb zu tumultartigen Szenen. Aus welchen Gründen ist nicht bekannt. Man vermutet, dass Besucher sich vielleicht im Internet über den spröden Sowjetcharme der Kantine und deren Mitarbeiter lustig gemacht hatten.

Plötzlich zog Jens an meiner Jacke und zeigte mir, das rechts von uns fast unbemerkt der Unglücksreaktor aufgetaucht ist.

Tschernobyl. Ich sehe den Ort mit eigenen Augen. Und kann ihn nur wie gelähmt anstarren.

Ich spüre, dass es uns beiden nicht so gut geht damit. Unsere Auseinandersetzung mit diesem Ort begann mit der Katastrophe im Jahre 1986. Jetzt plötzlich hier zu sein ist surreal. Beängstigend. Faszinierend. Unglaublich.

Es ist ein Schock, der sich erstmal wieder setzen kann, denn zunächst bleibt es bei der Vorbeifahrt und wir erreichen die Kantine. Dort angekommen bestehen die Eingänge aus Ganzkörperdosimetern, mit denen zum ersten Mal eine eventuelle Strahlenbelastung unserer Körper gemessen wird. Für alle gibt es grünes Licht und wir dürfen passieren.

Die mintgrüne Kantine mit ihrem gefliesten Boden und weißen Gardinen an den Fenstern  ist eine Attraktion für sich. Es gibt Hähnchen mit Kartoffelbrei und Borschtsch. Relativ eingeschüchtert bedanke ich mich mit einem ukrainischen ‘Dyakuyu’ und schaffe es dann doch einer der Kantinendame ein Lächeln zu entlocken. Sie hat mir dann sogar noch Ketchup angeboten.

Eintritt in die Kantine durch Ganzkörperdosimeter
Eintritt in die Kantine durch Ganzkörperdosimeter


Чорно́бильська АЕС

Und dann wurde es ernst. Wir umrundeten mit dem Bus einmal den Unglücksreaktor und ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass das alles hier war. Dass hier eine der größten Katastrophen der Menschheit stattgefunden hatte.

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Nur im Vorbeifahren konnten wir einen Blick auf den markanten rot-weißen Schornstein werfen, den man von unzähligen Aufnahmen kennt. Über den Unglücksreaktor wurde inzwischen eine neue Schutzhülle geschoben, da der vor drei Jahrzehnten errichtete Sarkophag von Beginn an undicht war und einzustürzen drohte.

Vorbeifahrt am Unglücksreaktor
Vorbeifahrt am Unglücksreaktor

Die neue Schutzhülle ist die größte, bewegliche Konstruktion, die die Menschheit je gebaut hat. 1.5 Milliarden Euro hat die 110 Meter hohe Hightechhülle gekostet, finanziert von 40 Ländern. Mit ihrer Länge von 160 Metern und ihrer Breite von 260 Metern bedeckt sie eine Fläche von etwa acht Fußballfeldern. Aus Strahlenschutzgründen wurde sie 330 Meter vom Unglücksort entfernt errichtet und dann mit einer Geschwindigkeit von 10 Metern pro Stunde über die Reaktorruine geschoben. Die Bauzeit betrug 7 Jahre. Die Inbetriebnahme verzögert sich aktuell.

Mindestens 100 Jahre soll die Schutzhülle halten, extreme Temperaturen aushalten und sogar einem Tornado oder Erdbeben trotzen können. Der Bau ist luftdicht abgeschlossen. Im Inneren soll mit einer großen Krananlage der alte Sarkophag wieder abgetragen werden. Darunter lagern noch schätzungsweise 190 Tonnen geschmolzenes Uran und Plutonium, so stark strahlend, dass es für Menschen tödlich ist. Wo das verstrahlte Material schlussendlich mal eingelagert werden soll ist völlig unklar.

Wir waren erstaunt wie dicht wir an den Reaktor herankamen. Trotzdem waren wir weit genug entfernt. Die Strahlungswerte auf unseren Geigerzählern waren zwar leicht erhöht, jedoch verglichen mit anderen Orten an diesem Tag vergleichsweise gering. Und trotzdem: Alleine zu wissen, dass sich nur wenige hundert Meter von uns entfernt die am stärksten strahlende radioaktive Quelle des Planeten befindet gibt uns ein mulmiges Gefühl. 2-ReaktorIMG_3545

Mahnmal zum Gedenken an die Katastrophe
Mahnmal zum Gedenken an die Katastrophe
Die neue Schutzhülle 'New Safe Confinement' wurde bereits über den Unglücksreaktor geschoben.
Die neue Schutzhülle ‘New Safe Confinement’ wurde bereits über den Unglücksreaktor geschoben.

Prypjat

Etwa 50.000 Menschen lebten vor der Katastrophe in Prypjat, eine Stadt, die 1970 im Zusammenhang mit dem Bau des etwa vier Kilometern entfernten Kernkraftwerkes Tschernobyl für die Angestellten und deren Familien gegründet wurde.

Vor dem Unglück war Prypjat eine junge und moderne Stadt. Das Durchschnittsalter der Einwohner lag bei 26 Jahren. Und mit dem geplanten Ausbau des Kernkraftwerkes um zwei neue Reaktorblöcke wurde auch die Erweiterung der Stadt auf 80.000 Einwohner geplant.

Erst 36 Stunden nach der Katastrophe wurde Prypjat evakuiert. Über Radiodurchsagen bat man die Einwohner nur das Nötigste mitzunehmen und sich auf eine dreitägige Abwesenheit einzustellen. Eine bewusst falsche Information um eine Massenpanik zu verhindern. Die Verantwortlichen wussten bereits, dass die Stadt aufgegeben werden muss.

1.200 Busse fuhren vor und evakuierten die Menschen binnen zweieinhalb Stunden. Nur einmal noch durften sie später zurückkehren, um weitere persönliche Gegenstände zu holen. Beteiligte Soldaten und Polizisten sprachen später von den dramatischsten Stunden ihres Lebens. Die Stadt war erfüllt von den Wehklagen der ehemaligen Bewohner, die nun den endgültigen Verlust ihrer Heimat realisierten. Es durfte kein Zurück geben.

Prypjat ist der Inbegriff eines ‘Lost Places’. Ein apokalyptischer Ort, an dem von einer Sekunde auf die nächste das menschliche Leben verschwunden ist. 50.000 Menschen mussten hier alles zurücklassen. Und die Natur holt sich diesen Ort seit drei Jahrzehnten wieder zurück.

Wir beginnen unseren Rundgang auf der früheren Hauptstraße, die nicht nur durch den Schnee nicht mehr zu erkennen ist. Dort wo früher einmal der Hauptverkehr durchführte sind inzwischen Bäume gewachsen.

Auf der Hauptstraße...
Auf der Hauptstraße…
...und ein Blick in die Vergangenheit, wie sie früher aussah
…und ein Blick in die Vergangenheit, wie sie früher aussah
Verlassenes Wohngebäude
Verlassenes Wohngebäude
Kulturpalast (links) und das Polissya Hotel (rechts)
Kulturpalast (links) und das Polissya Hotel (rechts)

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Überreste eines Möbelhauses
Überreste eines Möbelhauses

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Eines der bekanntesten und tragischsten Motive ist der Rummelplatz von Pripyat mit seinem 26 Meter hohen Riesenrad. Er sollte am 1. Mai 1986 zu den Maifeierlichkeiten offiziell eröffnet werden. Stattdessen diente er später im Kampf gegen die Katastrophe als Helikopter Landeplatz.

Bei unserem Rundgang zeigten die Geigerzähler eine geringe Strahlung von 0.38 μSv an. Als Elena ihr Gerät direkt unter die Gondel des Riesenrads hielt, schnellte der Wert auf  35.0 μSv hoch. Der höchste Wert des gesamten Tages. Radioaktive Partikel scheinen sich mit dem Material der Gondel verbunden zu haben.

Obwohl dies schon eine hohe Strahlung ist, kann es in unmittelbarer Umgebung noch zu weitaus höheren Ausschlägen kommen. Nicht alle Bereiche der verlassenen Stadt sind dekontaminiert worden.

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Unser Weg führt uns weiter auf den Platz vor dem ehemaligen Kulturpalast ‘Energetik’. Rechts daneben befindet sich das Polissya Hotel, in dem während der Katastrophe die Krisensitzungen abgehalten wurden.

Kulturpalast 'Energetik'
Kulturpalast ‘Energetik’

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Hotel Polissya
Hotel Polissya
Hotel Polissya früher
Hotel Polissya früher

Nach gut eineinhalb Stunden Spaziergang wurde es langsam Zeit zum Bus zurückzukehren. Unser Weg führte uns noch an der ehemaligen Atomenergiebehörde und einer verlassenen Musikschule vorbei.

Die ehemalige Atomenergiebehörde
Die ehemalige Atomenergiebehörde
Musikschule
Musikschule

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Ein Blick in die Vergangenheit
Ein Blick in die Vergangenheit

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Obwohl die Verstrahlung von Pripyat stark war und die Evakuierung zu spät erfolgte, so hätte es für die Menschen noch schlimmer kommen können. Nach der vollständigen Evakuierung drehte der Wind und brachte noch mehr Radioaktivität in die Stadt.

Am Ortseingang befindet sich jedoch ein zehn Quadratkilometer großes Gebiet, das bis heute zu den gefährlichsten Orten auf diesem Planeten zählt. Der rote Wald wird deshalb so genannt, weil die Bäume sich durch die radioaktive Strahlung rot verfärbten. Die Stämme sehen am Boden sogar wie verbrannt aus. Als wir mit dem Bus auf einer Straße an diesem Waldstück vorbeifahren, schlagen die Geigerzähler bis 25 μSv aus. Wir verstehen endgültig, dass wir auch nicht in einem geschlossenen Bus vor der Strahlung geschützt sind.

Bei der Evakuierung von Pripyat fuhren die Busse mit den ahnungslosen Menschen durch diesen Wald. Viel langsamer als wir das taten. Und die Strahlungswerte dort gingen damals in die Tausende.

Ortsschild Pripyat mit Gründungsjahr 1970
Ortsschild Pripyat mit Gründungsjahr 1970
Blick auf den roten Wald
Blick auf den roten Wald

Those who saved the world

“Die, die die Welt retteten” heißt das Denkmal, das wir zum Abschluss unserer Reise besuchen.

Es ist den vielen Menschen gewidmet, ohne deren Einsatz die ganze Katastrophe noch viel schlimmer hätte ausgehen können.

Viele dieser Menschen haben mit ihrem Leben dafür bezahlt. Die Allermeisten ihre Gesundheit geopfert. Wissend oder unwissend.

Errichtet wurde das Denkmal nicht von einer offiziellen Stelle, sondern von den Kollegen der Feuerwehrleute. Originalequipment, wie Helme, Feuerwehrschläuche oder Geigerzähler wurden mit Beton überzogen und in dem Kunstwerk verbaut.

Jens hat in seinem Blog so wunderbar hervorgehoben, was es bedeutet, dass ich dem kaum etwas hinzufügen kann. Ihr könnt seinen Reisebericht hier lesen.

Einmal im Jahr, am Jahrestag der Katastrophe, umrunden Feuerwehrleute aus dem ganzen Land das Denkmal mit ihren Fahrzeugen und eingeschalteten Sirenen.

Wir sind still… der eisige Wind pfeift uns unbarmherzig um die Ohren… Wir werden gleich wieder in den warmen Bus nach Kiew steigen. Raus aus dieser lebensfeindlichen Umgebung.

Those who saved the world
Those who saved the world

Wir verlassen die Sperrzone mit einer aufgenommenen Strahlung von 0.002 Millisievert. Ein durchschnittlicher Wert, der körperlich keine Gefahr darstellt.

Am Abend gehen wir in einem Restaurant essen. Wir sind aufgekratzt. Schließlich haben wir es gewagt und wir tauschen uns erst jetzt über die vielen Eindrücke aus, die uns überladen haben.

Erst in den nächsten Tagen realisiere ich, was eigentlich passiert ist.

Es gibt Orte auf dieser Welt, nach denen etwas anders ist…

Epilog

Ich erinnere mich an eine Diskussion mit einem Kollegen direkt nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima und dem dadurch beschlossenen deutschen Ausstieg aus der Kernenergie. Er hielt es für übertrieben und argumentierte, so eine Situation, wie sie in Japan passiert ist, könne es in Deutschland nicht geben. Wir seien schließlich kein Erdbebenland.

Vielleicht nicht. Aber andere Dinge können passieren. Und wenn der Ernstfall erstmal eingetreten ist, gibt es kein Zurück mehr.

Bei allen Sicherheitsvorkehrungen bin ich der Meinung, dass der Mensch diese Büchse der Pandora nicht handhaben kann. Selbst im regulären Betrieb stellt man sich ja nach wie vor die Frage, wo der ganze strahlende Atommüll eigentlich gelagert werden soll, damit er für die nächsten Jahrtausende keine Gefahr darstellt.

Vertuschte Störfälle, rostende Fässer, gestiegene Krebsraten oder Jod Tabletten im Raum Aachen… Die Meldungen in den letzten Jahren waren zahlreich.

Von Tschernobyl wird noch für Jahrhunderte eine Gefahr ausgehen. Ein Waldbrand reicht aus um neue radioaktive Wolken in die Welt zu schicken. Die Ukraine lässt man nach erfolgreicher Finanzierung der neuen Schutzhülle mit selbiger alleine. Ein Land dessen politische und wirtschaftliche Verhältnisse im Moment leider nicht als stabil einzustufen sind.

Und wie ist eigentlich der aktuelle Stand in Fukushima?

Ich würde diese Reise jederzeit wieder unternehmen und auch jedem, der den Mut hat sie anzutreten, empfehlen. Um das Unbegreifliche zu sehen und das nicht Spürbare zu spüren.

Weiterführende Tipps

Ich bin glücklich, dass ich mit Jens einen Mann an meiner Seite habe, der offen ist, solche Reisen mit mir zu wagen. In diesem Falle war sogar er es, der zeitlich auf die Tube gedrückt hatte, weil wir dachten, die neue Schutzhülle wird erst Ende Mai über den Reaktor geschoben. Seine Sicht unseres Tages findet ihr auf seiner Internetseite: www.jens-schweer.de

Wer vom heimischen Sofa aus einen Spaziergang durch die verlassene Stadt Pripyat unternehmen möchte, kann dies inzwischen über Google Maps tun. Dort einfach Pripyat als Ort in der Ukraine suchen und wie gewohnt mit dem gelben Männchen StreetView aktivieren. Wer möchte clickt hier. Ich habe als Einstiegsort den Platz vor dem Riesenrad ausgewählt.

Die sehr ausführliche Dokumentation mit Originalaufnahmen, die man uns im Bus gezeigt hat, kann man sich hier ansehen.

Eine weitere sehr gut gemachte Dokumentation zeigt in einer Spielfilmversion, was in dieser Nacht im Reaktor geschah. Sie ist relativ schonungslos und nichts für sensible Gemüter. Allen anderen sei sie unbedingt emfohlen. Ihr könnt Euch diese Sendung hier ansehen.

Gebucht haben wir diesen Ausflug bei CHORNOBYL TOUR. Die Abwicklung lief ohne Probleme und unser Tourguide Elena war herausragend. Dank guter Organisation wurde sogar daran gedacht einen Zwischenstopp zum Kauf für Gummistiefel einzulegen. Thank you Elena for this excellent tour.

Und auch ich habe auf unserer Tour einige Filmaufnahmen gemacht, die ich Euch nicht vorenthalten möchte. Ich habe sie nur simpel hintereinander weggeschnitten, damit Ihr Euch ohne Begleitmusik oder Kommentare einen Eindruck verschaffen könnt.

Ein Zertifikat über meine Strahlenbelastung des heutigen Tages: 0.002 mSV
Ein Zertifikat über meine Strahlenbelastung des heutigen Tages: 0.002 mSV

 

4 Gedanken zu „Nuklearer Winter“

  1. Kim, of all the many entries you have written (and I have read) over the years, this for me is by far the most impressive, insightful, moving, meaningful and disturbing one. Many thanks for the time you took to share this incredible event with us. Wow! Food for thought. ET

  2. Lieber Kim, ich bin ergriffen von Deiner Darstellung des Ereignisses, das unsere Generation wohl auf eine Weise erschüttert hat wie kein anderes. Warum? Der Glaube an Technologie und Fortschritt, der in mir schon immer stärker war als jede Spiritualität, das Vertrauen in den Menschlichen Verstand als Sicherheit und Zukunft gebende Instanz ist auf ewig erschüttert und rüttelt deswegen an meinen Grundfesten. Besonders gefallen hat mir, dass Du zum Ausdruck bringst, dass wenig menschlich Verursachtes so nachhaltig ist wie die radioaktive Kontamination, dabei aber nie den Fokus auf den Moment oder die Authentizität Deiner emotionalen Wahrnehmung verlierst. Du verdienst dafür meinen Respekt. Beachtlich! Lieber Gruß, André

    1. Vielen Dank lieber André. Ich freue mich sehr über Deine Worte. Und ja, es will einfach nicht in meinen Verstand hinein, dass die so lang beschworene Büchse der Pandora tatsächlich existiert. Man hat da eine Entdeckung gemacht und in die Welt gesetzt, die nie wieder verschwinden wird. Man kann nur hoffen, dass uns weitere Unglücke erspart bleiben. Aber wie realistisch ist das wenn man auf einen Zeitraum von Jahrhunderten denkt? 1954 ging das erste Kernkraftwerk ans Netz. Die Liste von Unfällen in kerntechnischen Anlagen ist wohl noch nicht lang genug… und das sind nur die, von denen wir wissen: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Unf%C3%A4llen_in_kerntechnischen_Anlagen

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